Mein 9. Oktober 2019
Am Tag des Terroranschlags auf die Synagoge in Halle war ich Berufsanfänger als Arzt und habe die Notfallpläne für einen Terroranschlag miterlebt.
Heute ist es 5 Jahre her, seit in Halle ein Rechtsextremist einen Terroranschlag auf die Synagoge der Stadt verübt hat. Der Attentäter hatte an diesem Tag um die Mittagszeit mit selbstgebauten Schusswaffen und Granaten versucht, in die Synagoge einzudringen, und geplant, die Menschen zu töten, die sich dort zur Feier von Yom Kippur versammelt hatten. Er scheiterte glücklicherweise an der Holztür der Synagoge und konnte nicht auf das Gelände kommen. Eine Passantin, Jana Lange, die ihn zur Rede stellte, erschoß er auf offener Straße. Der Attentäter fuhr dann mit seinem Auto weiter, entdeckte einen Dönerimbiss, den Kiezdöner, und wählte diesen als Ersatzziel. In diesem Imbiss schoss er wahllos auf Gäste, und tötete unter ihnen Kevin Schwarze. Er lieferte sich auf der Straße Schusswechsel mit der Polizei, entkam dieser mehrmals. Auf seiner Flucht griff er während der Flucht und in Wiedersdorf ausserhalb Halles weitere Menschen an und erpresste ein Auto. Er wurde schließlich auf einer Bundesstraße gestellt und sitzt seitdem im Gefängnis. Der Attentäter hat seinen Angriff per Livestream ins Internet übertragen, und in diesem Stream kommentiert. Er ordnete ihn als Tat der rechtsextremen Bewegung zu, und verbreitete antisemitische, rassistische und antifeministische Inhalte.
Anlässlich des Jahrestags an den Terroranschlag vom 9.10.2019 will ich hier auch meine sehr subjektiven Erinnerungen an den Tag festhalten.
Ich war nicht direkt betroffen, nicht Ziel dieses Anschlags, und es gibt wichtigere Perspektiven als meine. Insbesondere sei hier auf die Arbeit der Soligruppe Tekiez verwiesen. Aber es hat uns an dem Tag in Halle alle betroffen. Ich fand es eine tolle Aktion der Gruppe "Tagebuch der Gefühle" das mit "Wo Warst du?" sichtbar zu machen. Alle Leute die ich kenne, können sich genau an den Tag erinnern. Wir sind alle betroffen.
Ich war zu der Zeit Assistenzarzt in der zentralen Notaufnahme in der Uniklinik hier. Es war meine 2. Woche meiner allerersten Stelle als Arzt. Ich konnte grade venöse Zugänge legen, hatte aber sonst fast nur Buchwissen. Langsam verstand ich die Abläufe in der ZNA, und wer wer war.
Um die Mittagszeit kam der Alarm: MANV, Massenanfall von Verletzten, Schießerei im Paulusviertel. Mehr Informationen hatten wir zunächst nicht. Unsere Notaufnahme wurde mit diesem Alarm komplett gesperrt, wir hatten uns nur auf hierauf vorzubereiten, alle anderen Notfälle sollten in andere Krankenhäuser gebracht werden. Ich hatte das noch nicht ganz verstanden, da war die Notaufnahme schon fast leer. Alle unsere Patient*innen wurden auf Stationen im Haus verlegt oder entlassen wenn möglich.
Plötzlich waren wir also allein. Nicht lange. Als Teil eines solchen Alarms werden sämtliche fähigen Mitarbeitenden gebeten, sofort zum Krankenhaus zu kommen. Die ZNA bereitete sich auf eine unbekannte hohe Zahl an Schwerverletzten vor. Es wurden kleine Teams gebildet aus Erfahrenen Ärzt:innen und Pflegenden. Auf den Gängen wurden wagenweise Infusionssets und Wundversorgungssets bereit gestellt. Ich weiß noch dass ich den Vorbereitungen wie gelähmt zusah, alle wussten was zu tun ist, ich nicht.
Dann waren die Vorbereitungen getroffen, die ZNA war leer, die Verstärkung war da, und wir warteten. Noch immer ohne wirkliche weitere Informationen, nur dass es ein Terroranschlag sei, war inzwischen durchgedrungen.
Während die Erfahrenen noch informell Wissen austauschten und weitergaben, versuchten wir im Netz, auf Twitter Infos zu bekommen, und nach unseren Lieben zu telefonieren. Manche von uns wohnten im Paulusviertel und erreichten ihre Angehörigen nicht. Die Sorge war groß.
Ich weiß noch dass ich im Arztzimmer auf Twitter ein Handyvideo davon sah, wie der Terrorist sich auf der Ludwig-Wucherer-Straße eine Schießerei mit der Polizei lieferte. Da wohnen so viele Freunde von mir in der Nähe! Jana und Kevin müssen zu dem Zeitpunkt schon tot gewesen sein.
Wir lebten zum Glück in der südlichen Innenstadt, weit weg vom Geschehen, meine Partnerin hatte Besuch von einer Freundin, die in nächster Nähe der Synagoge wohnte, sie war froh bis abends bei uns bleiben zu können.
Ein Teil der Vorbereitungen und der Vorsichtsmaßnahmen die uns die Erfahrenen erläuterten, sind die Vorbereitungen auf einen Second-Hit. Es kam in der Vergangenheit bei Terroranschlägen immer wieder dazu, dass eintreffende Rettungskräfte angegriffen wurden, oder dass sich Terroristen unter den Opfern verstecken und im Nachgang Unterstützungstrukturen wie Krankenhäuser angegriffen haben. Deshalb waren wir vorbereitet, dass die ZNA komplett abgeriegelt würde, bis alle Opfer gesichtet seien.
Zur Steigerung unsere Kapazitäten wurde ein Behandlungsplatz-50 bereitgestellt. Das ist ein Container, in dem sich Zelte und Austattung befinden, um die Versorgung von bis zu 50 Leicht- Mittel und Schwerverletzten außerhalb des bestehenden Strukturen zu ermöglichen. Diese Container werden vom Katastrophenschutz vorgehalten, und vom jeweils verfügbaren Personal bedient. Diesen Container hätte im Fall auf dem Parkplatz aufgebaut werden können, und so auch ein Puffer nach außen sein können.
So überfordert ich Neuling also auch war, es war sehr beeindruckend und beruhigend, alle die strukturellen Vorbereitungen zu sehen und erfahrene Leute um mich herum zu haben.
Wir waren gut vorbereitet auf geschätzt bis zu 100 Verletzte. Dass es nicht so weit kam, war pures Glück. Es hätten auch mehr sein können. Verhindert hat das nicht die Polizei, nicht die Gesellschaft, verhindert hat das an dem Tag die stabile Holztür der Synagoge.
Aber das wussten wir noch nicht.
Wir warteten, vorbereitet, bis abends.
Es gab auch die Anweisung die Häuser nicht zu verlassen, aber auch so hätten wir an dem Tag nicht aus der ZNA weggehen können.
Erst abends wurden dann die Überlebenden der Synagoge zu uns gebracht. Ich habe einen älteren Herrn behandelt, der seine Blutdruckmedikamente in der Zeit in der Synagoge nicht bekommen hatte. Ich weiß noch wie sprachlos ich mich fühlte. Ich habe versucht ihn gut und normal zu behandeln, die medizinischen Sorgen zu nehmen, aber für die Schrecklichkeit seines Tages hatte ich keine Worte.
Ich wollte mich für dieses Land entschuldigen und wusste nicht wie.
Irgendwann konnte ich dann nach Hause gehen. Unsere Freunde durften wieder in ihre Häuser. Der Schrecken hat sich tief eingegraben.
Immer wieder kommt das Gespräch in verschiedenen Runden auf diesen Tag, und alle die damals in Halle waren oder wohnten wissen noch genau zu erzählen, was sie an diesem Tag erlebt haben.
Später habe ich erfahren, dass die Überlebenden der Synagoge an dem Abend in unserer KKH-Cafeteria den Abschluss von Yom Kippur mit meinen Kolleg:innen gefeiert haben. Das hat mich unglaublich gerührt. Für mich ist das so, als ob an dem Abend noch die Menschlichkeit wieder etwas hergestellt werden konnte, ich stelle mir vor dass dieses Fest die Sprachlosigkeit gegenüber dem Schrecken gebrochen hat.
Auch wenn es vielleicht naiv ist, gegenüber dem ganzen weiteren Schrecken seitdem:
Ich wünsch mir das.
Es gibt so viele viel wichtigere Stimmen als meine zu diesem Tag. Bitte hört den Leuten zu die direkt von diesem Anschlag betroffen sind, und denen die weiter unter der Gefahr solcher Angriffe leben.
Aktuell gibt es zum Beispiel diese Doku im MDR:
www.mdr.de/religion/anschlag-von-halle-ueberleben-doku-tipp-100.html
Und die Soligruppe Tekiez, die aus dem Ehemaligen Kiezdöner einen Erinnerungsort gemacht hat, macht wirklich tolle Arbeit: www.instagram.com/tekiez_raum